Hypochondrie

Jedes Symptom könnte der Ausgangspunkt für langes Siechtum sein.

Seit meinen Teenagerjahren beobachte ich Tag für Tag konsequent jedes Muttermal und jeden noch so winzigen Dippel. Dem merkwürdigen Drücken da und ungewöhnlichen Ziehen dort schenke ich jede nur erdenkliche Aufmerksamkeit. Schließlich könnte dieses Symptom der Ausgangspunkt für langes Siechtum, schreckliche Schmerzen oder den Verlust einer Extremität sein.
Herr Y war letzte Woche noch zu Fuß auf dem Schneeberg und braucht jetzt überraschend einen Herzschrittmacher, so hört man. Frau X war immer gesund und ist nun völlig unerwartet gestorben, erzählt einer. Ha, mit mir nicht! Ich werde nicht überraschend krank oder unerwartet sterben, da ich täglich damit rechne.
Diese besondere Form der Achtsamkeit habe ich von meinem Vater geerbt. Seit jeher beschäftigt er sich akribisch mit den eigenen Körperöffnungen- und Funktionen. Andere Leute gehen mit der Zeitung aufs Klo, er nimmt die Taschenlampe mit. Drei bis vier Mal am Tag misst er seinen Blutdruck, vier- bis fünf Mal im Jahr lässt er sich einen Schlauch in Darm oder Magen stecken. Mein Vater lebt seit zwanzig Jahren mit einer gepackten Tasche fürs Krankenhaus. Weilt sein Hausarzt auf Urlaub, gerät er in Panik. Jede nur mögliche medizinische Untersuchung wurde in den letzten Jahrzehnten von Ärzten aller Fachrichtungen bei ihm durchgeführt, ohne Ergebnis. Weil er topfit ist, sagen die Ärzte. Weil die Ärzte Trotteln sind, sagt mein Vater. Und sehnt bereits seinen nächsten Krankenhausaufenthalt herbei.
Dieser Umstand unterscheidet uns, denn ich laboriere zusätzlich an einer ausgeprägten Form der Iatrophobie. Dieses unsägliche Leiden habe ich von meiner Mutter geerbt. Die Symptome der Krankheit sind bei mir charakteristisch. Ich schaue keine Arztserien und vermeide Krankenhausbesuche. Ein weißer Kittel erhört meinen Blutdruck, das Warten auf einen Befund versetzt mich in Panik.
Ja, genau, Jackpot. Ich bin eine Hypochonderin, die Höllenangst vor Ärzten hat.

Alexandra Gruber schreibt und fotografiert für dieZeitschrift. Sie wohnt in Wien-Neubau, geht oft ins Cafe Europa und färbt sich seit jeher ihre Haare rot. Manchmal beschleicht sie die bange Ahnung, sie sei ein Bobo.