Ostern

Höllenqualen, ein dumpfes Dröhnen im Schädel, Blut, und ringsum hasserfüllte Fratzen, die mir irgendwas entgegenbrüllen. Doch ich verstehe die Worte nicht.

Grauenvoll stechende Schmerzen am Kopf; vor den Augen ein dickroter Schleier. Warm rinnt es in meine Ohren, in den Nacken, auf der Zunge der salzige Geschmack von Schweiß und, unverkennbar, Blut. Schwindel, die Knie drohen zu versagen unter dem sperrigen Ding auf meinen Schultern. Jeder neue Schritt eine Qual und ringsum kreischende Fratzen. Ich kann nicht verstehen was sie mir zubrüllen, sehe nur aufgerissene Mäuler, aus den Höhlen quellende Augen und drohend emporgereckte Fäuste, bevor ich zusammenbreche. Dieses riesige Etwas kracht auf meinen Rücken. Straßenstaub füllt stoßweise meine Lungen. Am Boden, getreten, bespuckt, und nun dieses Zischen in der Luft über mir und jetzt ein Schmerz, wie von hundert kleinen Nadeln. Schreiend will ich mich befreien, davonkriechen, doch diese Last auf mir, einem schweren Grabstein gleich, gestattet nur eine leichte Drehung des Kopfes. Über mir ein Hüne, verzerrtes Grinsen im Gesicht, als er erneut die Peitsche auswirft. Noch brennt der Schmerz des ersten Schlages, hat seinen Zenit noch nicht erreicht, da flammt der nächste auf, durchrast meinen gesamten Körper. Mit all mir verbliebener Kraft brüllend, kralle ich mich in den Staub. Spitze Steine zerreißen Stirn und Wangen und die Fingernägel brechen. In welche Hölle bin ich hier geraten? Warum?

Keine Kraft mehr im geschundenen Leib, tosender Schmerz, als sich das Ding, ehe es meinen letzten Atem raubt, zur Seite schiebt. An den Armen gepackt, emporgerissen und brutal auf die Füße gestellt, hebe ich mühsam den Kopf, verharre. Jemand betupft mein Gesicht mit einem feuchten Tuch, wischt Dreck und Blut aus den verquollenen Augen. Vorbei? Doch schon wieder schlagen sie zu, treiben mich vorwärts. Durch ein Spalier tobender Irrer torkle ich bergan, mehr geschoben und getreten, denn aus eigener Kraft. Wahnsinniger Lärm ringsum; ihr schrilles Gekreische raubt mir den Verstand. Für Bruchteile von Sekunden erhasche ich hinter mir den ruhigen Blick eines Mannes. Er schleppt nun den großen hölzernen Balken, dessen Druck ich immer noch auf den Schultern fühle. Höllenschmerzen überall, der rechte Arm wie tot, ein dumpfes Dröhnen im Schädel, Blut, und kein Moment der Ruhe. Sie rufen jetzt irgend etwas, immer wieder, brüllen mir haßerfüllt entgegen. Doch ich verstehe die Worte nicht, starre nur verständnislos in ihre entstellten Gesichter. Verzweifelt bemüht, auf den Beinen zu bleiben, wanke ich weiter. Vor mir, etwa fünfzig Meter noch... keine neue Erhebung dahinter. Das Ziel vielleicht? Ruhe dann, endlich?

Weiter! Ich pralle gegen die Wand aus Leibern an der linken Seite dieses Spaliers, werde weggestoßen, falle gegen die Wand zur Rechten. Schläge, die ich kaum noch spüre, ein Tritt ins Kreuz. Weiter! Nach einer Ewigkeit, endlich, der Gipfel des Hügels. Die letzten Meter kriechend, erneut auf die Beine gerissen und vorwärtsgetrieben. Ein Kordon von Männern umringt mich, während ich zusammensacke, ächzend nach Luft ringe. Und diese unmöglichen Schmerzen im Kopf, als würde er jeden Moment platzen. Was wollen all diese Arschlöcher bloß von mir? Was habe ich denen getan? Keine Zeit nachzudenken - ein dumpfer Krach, dicht neben mir fällt etwas zu Boden. Gleichzeitig packen sie zu, zerren mich hoch, bloß um mich sofort wieder auf etwas Hartes zu werfen, das meine Wirbelsäule beinahe brechen läßt. Dann dreschen sie ihre Knüppel auf meine Beine. Immer wieder schlagen sie zu. Übermenschliche Tortur. Ich fühle die Knochen splittern, alles absterben. Rasende rote und gelbe Wellen vor den Augen, während ich röchle, die Stimme bereits zu schwach für Schreie. Irgend etwas dringt durch meine Handflächen. Schon eskaliert der Schmerz, reißt mich hinweg, schon senkt sich Schwärze über mich, schon hoffe ich, es wäre das Ende, als ich fühle, wie sie mich aufrichten, mitsamt diesem Ding unter mir, auf dem ich hilflos hin- und herschwanke. Und als ich zu fallen drohe, reißt das Fleisch meiner Hände und nur noch Knochen verhindern den Sturz. Irre Kreise in allen Farben, rasende Wogen der Pein! Unter mir ein Meer jubelnder Kreaturen, Stakkato an Irrsinn. Mein Kopf fällt zur Seite und verschwommen erblicke ich ein Kreuz und an ihm hängt ein Leib, angebunden an Händen und Füßen. Abrupt wendet er sein Gesicht ab, während ich krächzend die letzten Schmerzen forme. Man dreht mich mit einem Ruck, die Henker unter mir treten zurück und undeutlich erhasche ich zur Rechten ein weiteres Kreuz. Wieder hängt daran ein Mensch. Und diese Augen, die mich anstarren und dieser lächelnde Mund... Deutlich meine ich noch die weißen Zähne zu erkennen, ehe diese schwarze Wand über mich fällt und ich in einen Abgrund ohne Ende stürze. Es ist vollbracht.

Aber dort ist ein Licht, es schimmert grün und in meinen Ohren dröhnt dieser metallene, nervtötende Klang. Schweißgebadet wühle ich mich aus den Laken.
Es ist mein Handy und dran ist der Pianischt: „Bischt no untawegs oder han i di aufg’weckt?“
Bloß nicht! Alkohol ist ab sofort gestrichen!! Zumindest bis Pfingsten!!!

Der Trinker würde sich selbst nie Alkoholiker nennen. Denn sein Bier schmeckt ihm nur in guter Gesellschaft. Ansonsten hält er es mit George Bernard Shaw: „Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“ Geboren tief im Süden, im Jahre Woodstock, lebt er seit bald zwanzig Jahren in Wien. Wie alle „Zuagrasten“ aus der Provinz wollte er diese hier vergessen. Nüchtern gelingt das nur schwer, trägt doch jeder seine ganz persönliche Provinz mit in die Hauptstadt, wo sie dann auf die gelebte Provinz der Wiener trifft. Erst Alkohol weicht die Grenzen auf, beseitigt Hürden der Vernunft und lässt entstehen, was eine Weltstadt ausmacht: Freiheit. Er würde sich selbst nie Alkoholiker nennen. Trinken ist für ihn ein Spiel mit der Realität, Wahnsinn auf Zeit, Eintrittskarte zu einem Schauspiel, wo Absurdes Theater nüchternen Alltag von der Bühne fegt. Wenn dann Masken und Etikette fallen, wird alles möglich und der Mensch lässt sich nicht länger verstecken. Auf die Begleitung seines Hirns muss man dort verzichten, und der Bauch spricht eine völlig andere Sprache als der Kopf. Die wichtigsten Dinge im Leben, davon ist er überzeugt, muss man fühlen, rational lassen sie sich nicht erfassen. Wie also nüchtern diese Welt betreten, mit unseren durch Jahrtausende der Zivilisation verkümmerten Sinnen? Unmöglich! Was hätte die Menschheit ohne Alkohol schon vollbracht? Es gäbe wohl nur die halbe Kunstgeschichte, wahrscheinlich die schlechtere Hälfte. Grenzen sind Illusion, das hat er erkannt, aber auch, dass Grenzenlosigkeit in die Leere führt. Sein Bier schmeckt ihm erst in guter Gesellschaft, und ist sie wirklich gut, dürfen Runden auch weit länger dauern als bis zum frühen Morgen. Künstler, Lebenskünstler, echte Wiener und andere Wahnsinnige, sie alle bevölkern seine Reise entlang dem schmalen Grat zwischen Sucht und Abstinenz.