Amster-Dam

Die ganze Amsterdamer Welt verschwimmt in grün-rot-grauen Schwaden. Plötzlich mag ich die Klofrau so gerne. Passivrauchen macht doch high.

„Die Klofrau schaut dich an“, schreit der Pianischt in schönstem Hochdeutsch von jenseits des kleinen Tisches. Es ist extrem laut hier und Tirolerisch wäre auf diese Distanz sinnlos. Trotzdem verstehe ich: „Die Klofrau hat nichts an.“ Verstohlen riskier’ ich einen Blick durch die rot-grün-grauen Rauchschwaden – die Klofrau starrt mich an! Viele Jahre nach hübsch, nicht in meinem Beuteschema. Aber Moment, da liegt etwas Getriebenes in ihrem Blick, sogar ein Hauch von Fanatismus. Hat sie mich ertappt, wird sie mich jetzt verpfeifen? Ich decke die Glut mit der linken Handfläche ab und behalte alles unter dem Tisch. Es ist verdammt riskant, ich spüre das Adrenalin schwappen und versteck’ mich so gut es eben geht hinter dem wallenden roten Haar der Schnickschnack zu meiner Linken.

„Du musst mir jetzt ehrlich sagen“, schreit mir diese nun ins Ohr, „ob man vom Passivrauchen high werden kann. Falls ja, dann muss ich auf der Stelle gehen“.
„Das ist total unterschiedlich“, schrei ich zurück, „individuell verschieden“, und halte ihr unterm Tisch das Ding mit dem Mundende entgegen.
„Nein danke“, sagt sie, wenig überraschend.

„Keine Sorge, vom Atmen allein kannst nix spüren.“ Ich muss sie beruhigen, brauch ich sie doch gerade ganz dringend als Sichtschutz. Langsam kommt jetzt die Wirkung, ich kippe total in den Elektrobeat, höre Bob Marley heraus, reiche das Gerät unter dem Tisch an die Exex weiter und trommel zum Rhythmus auf meinen Oberschenkeln. Das fährt ordentlich ein und für einige Zeit bin ich richtig weggebeamt. Nichts anderes zählt mehr und ich vergesse sogar die Klofrau. Gerade eben kann sie mich gar nicht erwischen, rauchen tut die Exex und die sitzt mit dem Rücken zu ihr. Der Verbissene lächelt völlig gelöst und bläst seinen Rauch zur Schnickschnack. Mit sanft schwingendem Handgelenk erklärt er ihr, sie brauche sich keine Sorgen zu machen, nichts davon könne sie beeinträchtigen.

Could-you-be-lo-oved, boom bum bum bum…? Da isser, da Marley! Remixed zwar, aber ganz deutlich, ist man erst mal reingekippt.

Während einer Linksdrehung beim Headbangen sehe ich keine Klofrau mehr. Sie ist weg! Der besorgten Miene des Pianischen gegenüber entnehme ich, dass sie nun in meinem Rücken droht. Ich headbange ein wenig sehr nach rechts. Tatsächlich, da steht sie! Neben der Bar! Und: SIE STARRT MICH AN! Wird sie mich nun denunzieren? Will sie mich gar erpressen?

Nichts geschieht, und ich höre jetzt Blurred Lines aus dem Trancebeat. Zum Trommeln brauch ich jetzt die ganze Strecke vom Oberarm des Verbissenen bis zum Schenkel der Schnickschnack und singe laut mit. Dabei dreh ich mich um, gerade weit genug, um völlig überrascht You’re the hottest bitch in this place direkt ins Angesicht der WC-Frau zu singen, die nun dicht hinter mir steht. Sie lacht, ich mag sie, und die ganze Welt verschwimmt in grün-rot-grauen Schwaden. Mein Kopf gerät nahe an die Schnickschnack-Schulter und ich höre, wie sie mit dem Verbissenen darüber diskutiert, ob die Kleine damals im Duett mit Karel Gott bei Fang das Licht dessen Tochter war oder nicht. Der Verbissene argumentiert entspannt dafür, die Schnickschnack verbissen dagegen. Niemand am Tisch will sich aufraffen und Google bemühen.

Die Toilettendame sitzt nun wieder an ihrem angestammten Platz und lächelt. Ich grinse ins Universum und stell mir gerade vor, wie Amster-Dam des Pianischten als Trance-Nummer klänge. Gestern Nacht von ihm am Klavier improvisiert, hat das Potenzial und Zukunft. Damit kommt er ganz groß raus! Ist zwar ein Chanson, aber es wird so viel Geld abwerfen, dass er sich für den Rest seines Lebens seiner Neuen Musik widmen kann. Gerade argumentiert er mit beiden Händen, ich hab’ keine Ahnung, worum’s geht. Aus der Drehung heraus, pure Gewohnheit, steckt er sich eine Zigarette an. You're an animal, baby, it's in your nature. Na mehr hat er nicht gebraucht – sofort ist die Kellnerin bei ihm und keift fürchterlich, Hier wird nicht geraucht! Das ist strengstens verboten! Das ist ein ordentlicher Amsterdamer Coffee-Shop! Purer Tabak hat hier nichts zu suchen! Das war die kürzeste Zigarette seines Lebens und wir fliegen alle hochkant hinaus.

Meinen Tschick hab’ ich zuvor heimlichst unterm Tisch geraucht, und ihn mit mehreren anderen geteilt. Die wahre Herausforderung in Amsterdam! Das Gefühl, etwas absolut Verbotenes zu tun, hat schon was. Und von wegen, Passivrauchen wirkt nicht – Bob Marley und Blurred Lines kamen doch nicht von den paar Zügen, lächerlich! Und die Karel-Gott-Diskussion, hey hey hey, hat die Schnickschnack übrigens gewonnen. Na also - sowas käme ihr nüchtern doch nie in den Sinn - You’re a good girl!

Der Trinker würde sich selbst nie Alkoholiker nennen. Denn sein Bier schmeckt ihm nur in guter Gesellschaft. Ansonsten hält er es mit George Bernard Shaw: „Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“ Geboren tief im Süden, im Jahre Woodstock, lebt er seit bald zwanzig Jahren in Wien. Wie alle „Zuagrasten“ aus der Provinz wollte er diese hier vergessen. Nüchtern gelingt das nur schwer, trägt doch jeder seine ganz persönliche Provinz mit in die Hauptstadt, wo sie dann auf die gelebte Provinz der Wiener trifft. Erst Alkohol weicht die Grenzen auf, beseitigt Hürden der Vernunft und lässt entstehen, was eine Weltstadt ausmacht: Freiheit. Er würde sich selbst nie Alkoholiker nennen. Trinken ist für ihn ein Spiel mit der Realität, Wahnsinn auf Zeit, Eintrittskarte zu einem Schauspiel, wo Absurdes Theater nüchternen Alltag von der Bühne fegt. Wenn dann Masken und Etikette fallen, wird alles möglich und der Mensch lässt sich nicht länger verstecken. Auf die Begleitung seines Hirns muss man dort verzichten, und der Bauch spricht eine völlig andere Sprache als der Kopf. Die wichtigsten Dinge im Leben, davon ist er überzeugt, muss man fühlen, rational lassen sie sich nicht erfassen. Wie also nüchtern diese Welt betreten, mit unseren durch Jahrtausende der Zivilisation verkümmerten Sinnen? Unmöglich! Was hätte die Menschheit ohne Alkohol schon vollbracht? Es gäbe wohl nur die halbe Kunstgeschichte, wahrscheinlich die schlechtere Hälfte. Grenzen sind Illusion, das hat er erkannt, aber auch, dass Grenzenlosigkeit in die Leere führt. Sein Bier schmeckt ihm erst in guter Gesellschaft, und ist sie wirklich gut, dürfen Runden auch weit länger dauern als bis zum frühen Morgen. Künstler, Lebenskünstler, echte Wiener und andere Wahnsinnige, sie alle bevölkern seine Reise entlang dem schmalen Grat zwischen Sucht und Abstinenz.