In der Cordoba-Falle

Die Gefahr ist groß, dass wir uns demnächst wie Weltmeister fühlen. Deutschland ist bei der WM in Russland zwischen 14. Juni und 15. Juli Titelverteidiger und Top-Favorit. Österreich ist zwar nicht einmal qualifiziert, hat aber neulich in Klagenfurt gegen den Weltmeister mit 2:1 gewonnen. Prompt enfleuchte nicht nur einem einzelnen boulevardesken Geisteskind der literaturnobelpreisverdächtige Satz: „Klagenfurt ist das neue Cordoba.“

Eine Aussage von geradezu irrwitziger Originalität. Damit jetzt aber nicht auch noch die weniger fußballaffinen Menschen in die Cordoba-Falle tappen, schreit diese stumpfsinnige Schlagzeile nach Aufklärung: Der letzte Sieg gegen Deutschland fand 1986 in Wien statt. Also keineswegs im Sommer 1978 in der zweitgrößten argentinischen Stadt Cordoba.

Am 29. Oktober 1986 verwandelte Toni Polster zwei Elfmeter. Zwei Mal traf der Rapidler Reinhard Kienast. Rudi Völler schoss das Tor der Deutschen. Alle fünf Tore fielen innerhalb von 18 Minuten in der zweiten Hälfte. Deutschlands Kapitän Lothar Matthäus wurde nicht nur ausgeschlossen, er machte sich auch noch besonders beliebt, indem er die 1:4-Niederlage seiner Mannschaft als Geschenk des Schiedsrichters anlässlich der Neueröffnung des Wiener Praterstadions bezeichnete.

Der 3:2-Sieg gegen Deutschland bei der WM-Endrunde 1978 hätte also sehr rasch zu einer Randnotiz in den Fußball-Geschichtsbüchern verkommen müssen. Und zwar bereits acht Jahre nach Cordoba – nicht erst 40 Jahre danach. Doch Cordoba wuchs zur Legende, weil sich sehr schnell eine Art Tafelrunde bildete. Genau diese Ritter des Cordoba-Ordens werden noch heute mit flammendem Schwert verkünden: „In Cordoba gab es den einzigen Sieg gegen Deutschland im Rahmen eines großen Turniers.“ Diese Aussage ist zwar fast richtig, aber trotzdem irgendwie falsch. Nicht nur, weil Österreich noch als Monarchie-Auswahl im Achtelfinale des Olympischen Fußballturniers 1912 in Stockholm Deutschland mit 5:1 besiegt hatte.

1978 hätte Deutschland gegen Österreich 5:0 gewinnen müssen, um doch noch das Finale der WM in Argentinien zu erreichen. Gleichzeitig hätten Holland und Italien unentschieden spielen müssen. Es ging für den damals regierenden Weltmeister realistisch betrachtet nur noch um die Chance auf das so genannte „kleine Finale“, also um die Teilnahme am ungeliebten Match um Platz 3.

Andererseits hätte Österreich 3:0 gewinnen müssen, um den letzten Platz in der Zwischenrunde den Deutschen zu überlassen. Jedoch waren weder das kleine noch das große Finale mehr erreichbar. 1978 gab es weder Viertel- noch Semifinale, sondern nach der Vorrunde eine Zwischenrunde mit zwei Gruppen zu je vier Teams. Die Gruppensieger qualifizierten sich für das Endspiel. Das waren schließlich Gastgeber Argentinien und die Niederlande unter dem österreichischen Trainer Ernst Happel. Jener hieß mit dem Spitznamen übrigens „Wödmasta“. Der Wiener wurde mit seinen Hlländern aber nur Vizeweltmeister, weil die Auswahl der damaligen Militärdiktatur (unter Jorge Rafael Videla) mit sehr viel Glück und dank des genialen Mario Kempes erstmals den Titel gewann.

Wenn man ehrlich ist, war Cordoba also nicht viel mehr als ein prominentes Freundschaftsspiel. Auch wenn die BILD-Zeitung am Tag davor noch getitelt hatte: „Wien, Wien nur du allein, Hölzenbein tu du ihn rein!“ Gemeint waren damit die Torjäger-Qualitäten des Stürmers Bernd Hölzenbein von Eintracht Frankfurt. Auch dieser Großkotzigkeit wegen wollten viele Österreicher Cordoba zu einem deutschen Waterloo hochstilisieren. Doch der Eiche war es schon damals wurscht, wenn sich ein Ferkel an ihr rieb.

Übrigens tat besagter Hölzenbein den Ball tatsächlich einmal rein ins österreichische Tor. Und zwar zum 2:2. Aber eben nicht fünf Mal. Zuvor hatte schon Karl-Heinz Rummenigge, heute Vorstandsvorsitzender der FC-Bayern-München-AG, zum 1:0 getroffen. Für Österreich tat zuerst einmal auch ein Deutscher den Ball ins Tor rein: Der spätere deutsche Bundestrainer Berti Vogts fabrizierte ein Eigentor zum 1:1. Der spätere Trafikant Willi Kreuz war der eigentliche Torschütze, doch das Bummerl wurde Vogts angerechnet.

Für zwei Österreicher war Cordoba aber wahrhaftig alles andere als ein bedeutungsloses Spiel: Für den Radio-Reporter Edi Finger Senior und für Torjäger Hans Krankl. Ersterer wurde weit über die Grenzen hinaus berühmt. Vor allem mit dem Schrei „Tor, Tor, Tor – i wear narrisch!“ Es war das erste und einzige Mal, dass eine Radio-Übertragung dem TV-Kommentar die Show stehlen konnte: Ingenieur Fingers emotionaler Ausbruch war später sogar auf Vinyl erhältlich; als Langspielplatte. Unter dem Titel „I wear narrisch“ schrieb er seine Memoiren. Und jede der inflationären TV-Wiederholungen wird noch heute mit seinem Radio-Kommentar unterlegt. Robert Seeger, der das Spiel tatsächlich im Fernsehen kommentiert hatte, wurde erst später durch Ski-Übertragungen an der Seite von Armin Assinger und einen Norweger-Pullover wirklich bekannt.

Rapid-Stürmer Krankl erzielte in Cordoba die Tore zum 2:1 und zum 3:2, wurde dadurch weltberühmt, bekam einen Vertrag beim FC Barcelona, für den er im Jahr darauf mit 29 Toren spanischer Torschützenkönig wurde. Ein weiteres Tor schoss er im Europacupfinale der Cupsieger 1979. Und zwar in der Verlängerung (111. Minute) zum alles entscheidenden 4:2 gegen Fortuna Düsseldorf in Basel (Endstand 4:3). Fünf Jahre bevor Arnold Schwarzenegger zum Terminator wurde, nannte man Hans Krankl bereits Goleador.

Aber eines hat Krankl in Cordoba nicht getan: nämlich einen Hattrick (3 Tore in Serie innerhalb einer Spielhälfte) erzielt. Auch darin besteht einer der vielen gängigen Cordoba-Irrtümer. Zum Glück ist keiner auf die grenzgeniale Idee gekommen, ihn Cordobator zu nennen.

Der schlimmste Cordoba-Irrglaube war jedoch ein ganz anderer: Der 3:2-Sieg vermittelte den Eindruck, Österreich sei immer noch eine Fußball-Nation. So wie einst in der Ära des Wunderteams. Dabei gehörten die WM-Spieler von 1978 nur noch einer letzten goldenen Generation für viele Jahrzehnte an. Das System war längst völlig veraltet und international nicht mehr konkurrenzfähig: Verkalkte Funktionäre, verrostete Strukturen, verstaubte Vereine. Anstelle einer großen Reform machte sich nach Cordoba die selbstherrliche Einstellung breit, dass sowieso alles in Ordnung sei im Fußball-Staate Österreich. Es dauerte fast vierzig Jahre, ehe Österreich – von ein paar Teilerfolgen abgesehen – wieder halbwegs zum europäischen Mittelfeld aufschließen konnte. Genau darin bestand die heimtückische Cordoba-Falle. Schon aus diesem Grund darf der Überraschungssieg von Klagenfurt nicht zu einem neuen Cordoba werden.