Der Deutsche Oscar Slater war kein Guter. Er war Spieler, Buchmacher und Zuhälter, änderte öfters seinen Namen, um Gläubigern und seiner Ehefrau zu entwischen. Im Mai 1909 stand er in Edinburgh vor Gericht und wurde zum Tode verurteilt. Die Geschworenen hatten ihn für schuldig befunden die 82jährige Marion Gilchrist in Glasgow mit einem Hammer erschlagen und eine Brosche gestohlen zu haben. Die Beweiskraft schien erdrückend.
Zahlreiche Augenzeug_innen identifizierten ihn als den Mörder, ein Mann sagte aus, dass Slater versucht habe ihm den Pfandschein für die versetzte Brosche zu verkaufen und die Polizei vermutete hinter Slaters Abreise - unter dem Namen Otto Sando - in die USA - Flucht.
Der Fall schien klar, wäre da nicht der Krimiautor und Erfinder von Sherlock Holmes, Arthur Conan Doyle, gewesen. Immer wieder wandten sich Menschen mit Hilferufen direkt an ihn oder schrieben an Holmes angebliche Adresse Baker Street 221B. Die englische Post leitete die Briefe an Doyle weiter und der Autor half sofern es ihm möglich war – auch im Fall von Oscar Slater. Und ein befreundeter Jurist stellte Doyle die Polizei- und Gerichtsakten zur Verfügung.
Der Mord
Am 21. Dezember 1909 verließ Gilchrists Dienstmädchen, Helen Lambie, die Wohnung gegen 19.00 Uhr um, wie jeden Tag, die Abendzeitung zu kaufen. Kurz darauf hörten die Nachbarn in der unteren Wohnung Lärm, aber keine Schreie. Ein Nachbar, Arthur Adams, ging hinauf, um nachzusehen was passiert ist. Er läutete, aber niemand öffnete ihm. Lambie kehrte zurück, schloss die Tür auf. Sie standen einem Fremden gegenüber. Er kam aus einem der beiden Schlafzimmer und ging seelenruhig an ihnen vorbei, durch die schwach beleuchtete Diele zur Tür hinaus. Weder Lambie noch Adams hielten ihn auf. Der Fremde rannte die Stufen hinunter und rempelte auf der Straße das 15jähriges Botenmädchen Mary Barrowman an.
Adams wird später aussagen, dass das Dienstmädchen nicht sofort nach ihrer Herrin sah, sondern zuerst in die Küche und dann ins Schlafzimmer ging, bevor sie das Esszimmer betrat und die tote Frau entdeckte. Ihr Schädel war eingeschlagen.
Die Ermittlung
Die Polizei entdeckte, dass außer einer halbmondförmigen Diamantbrosche nichts gestohlen worden war. Offen herumliegender Schmuck, im Wert von rund 3.000 Pfund, sowie Geld war zurückgelassen worden. Der Täter hatte nur eine Schatulle mit Papieren aufgebrochen und als einziges Beweisstück eine Schachtel Zündhölzer zurückgelassen.
Die Befragung der Zeug_innen ergab eine recht undeutliche Täterbeschreibung. Er soll einen braunen oder marineblauen Mantel, eine braune Tweedmütze oder einen dunklen Hut getragen oder gar keine Kopfbedeckung getragen haben, einen schleppenden oder unauffälligen Gang, eine normale oder eine schiefe Nase, einen langen oder kurzen Hals gehabt haben, einen Bart oder keinen getragen haben. Trotzdem veröffentlichte die Polizei eine Beschreibung. Sie suchten nach einem 28 bis 30jährigen Mann, groß gewachsen, dünn und glatt rasiert. Damals war Slater 37 Jahre alt und trug einen Bart.
Flucht in die USA?
Ein Mann berichtete der Polizei, dass Slater versucht habe ihm einen Pfandleihschein über eine halbmondförmige Diamantbrosche zu verkaufen. Als sie vor Slaters Tür standen, erfuhren sie, dass dieser abgereist war nach Monte Carlo oder Liverpool oder London. Drei Tage später ermittelten sie, dass Slater mit seiner Geliebten, unter dem Namen Mr. und Mrs. Otto Sando, mit dem Dampfer „Lusitania“ nach New York abgereist waren. Die Polizei schloss daraus, dass er auf der Flucht war. Sie kabelten der Polizei in den USA die Bitte, Slater sofort nach der Ankunft festzunehmen. Dabei hatten sich mittlerweile zwei Verdachtsmomente in Luft aufgelöst.
Slater hatte eine Brosche schon vor dem Mord bei einem Pfandleiher versetzt und seine Freunde sagten aus, dass sie schon lange wussten, dass er in die USA auswandern wolle. Die Schotten teilten dies den Amerikanern aber nicht mit und Slater wurde verhaftet und sein Gepäck durchsucht. Außer Kleidung und einem billigen Hammer fanden die Kriminalisten nichts. Eine Untersuchung ergab, dass keinem der Gegenstände Blut anhaftete.
Inzwischen reisten zwei Beamte mit den drei Hauptzeug_innen nach New York, sie sollten Slater identifizieren. Vor Gericht waren sie sich nicht sicher, sagten aus, dass Slater dem Mann ähnelte. Der Angeklagte erklärte sich sofort bereit nach Schottland zurück zu kehren und sich dem Prozess zu stellen. Er beteuerte seine Unschuld.
Die Gerichtsverhandlung
Bei der Gerichtsverhandlung in Edinburgh änderten die drei Hauptzeug_innen ihre Aussagen. Plötzlich wollten sie Slater mit Sicherheit erkannt haben. Die Staatsanwaltschaft behauptete, dass der Hammer das Tatwerkzeug gewesen sei und obwohl Slater für die Tatnacht ein einwandfreies Alibi hatte, wurde er zum Tode verurteilt.
Die Frage wie Slater in die Wohnung gekommen sein soll, warum er nur eine Schatulle mit Papier gewaltsam geöffnet haben soll und statt des gesamten Schmucks nur eine Brosche mitgenommen haben soll, wurde im Prozess nicht einmal angesprochen. Hatten die Behörden und die Politik doch ihr Ziel erreicht: schnelle Aufklärung und einen verurteilten Täter.
Doch der Fall erregte Aufsehen, seine Verteidiger veröffentlichten Artikel in Presse, zählten im Begnadigungsgesuch all die Ungereimtheiten auf. Das Urteil wurde von Todesstrafe auf lebenslänglich geändert.
Arthur Conan Doyle
Im Jahr 1912 veröffentlichte Doyle das Buch – „The Case of Oscar Slater“. Er deckte auf, dass die Kriminalbeamten schludrig gearbeitet hatten: Der Hammer passte nicht zu den Wunden in Gilchrist zertrümmerten Gesicht, ein Stuhl mit blutigen Beinen war nie untersucht, sondern gereinigt worden. Den Zeug_innen war vor ihrer Aussage vor Gericht ein Foto von Slater gezeigt worden und er war an ihnen vorbei geführt worden.
Zwar verkaufte sich das Buch gut, aber es half Slater nicht. Im Jahr 1914 erschien eine erweiterte Auflage. Diesmal wurde eine Kommission eingesetzt, die aber zum Schluss kam, dass alles Rechtens sei. Nur einer der Kriminalbeamten, der von ihrer Majestät persönlich ausgezeichneter Polizist, Leutnant John Thomson Trench, glaubte nicht daran.
Neue und alte Verdächtige
Trench befragte eine Verwandte von Gilchrist. Sie sagte aus, dass das Dienstmädchen nach der Entdeckung des Mordes zu ihr gekommen wäre und ihr erklärt habe, dass sie den Täter mit eigenen Augen gesehen hätte, einen Neffen des Opfers, Dr. Francis James Charteris. Das Dienstmädchen Lambie behauptete bei einer weiteren Befragung, dass dies absolut unwahr sei. Das kostete Trench seine Stellung und seinen Pensionsanspruch.
Erst viele Jahre später wird Lambie in einem Zeitungsinterview sagen: „Als ich der Polizei den Namen des Mannes sagte, von dem ich glaubte, dass ich ihn erkannt hätte, antworteten sie ‚Unsinn! Sie glauben doch wohl selber nicht, dass er ihre Herrin ermordet und beraubt hat!‘ Sie verspotteten meine Ansicht so sehr, dass ich selbst glaubte, ich müsste mich geirrt haben.“
Dass es keine Anzeichen von gewaltsamen Eindringen in die Wohnung gab legte jedoch nahe, dass das Opfer ihren Mörder selbst in die Wohnung gelassen hatte. Oder, so wie Doyle vermutete, dass der Mann schon in der Wohnung gewesen war, als sie ausging um die Abendzeitung zu kaufen. Sie also Komplizin des Mordes war. Dies waren nur zwei der Theorien, die in den folgenden Jahrzehnten auftauchen sollten.
Die Freilassung
Im Jahr 1927 schrieb der Journalist William Parks das Buch mit dem Titel „The Truth About Oscar Slater“. Es wurde zu einem Bestseller. Die Presse berichtete wieder über den Fall Slater. Doyle schrieb einen Zusammenfassung und schickte sie an sämtliche Parlamentsmitglieder.
Das Gericht mauerte anfangs weiter, wechselte dann aber auf Schadensbegrenzung und verkündete schließlich, dass das Urteil wegen eines Formalfehlers aufzuheben sei. Nach mehr als 18 Jahren Haft kam Slater frei. Mit finanzieller Hilfe von Doyle erkämpfte er eine Entschädigungszahlung von 6.000 Pfund und lebte von nun an ein ruhiges Leben. Er starb am 31. Jänner 1948 – nicht aber sein Fall.
Neue Hinweise
Nach seinem Tod erleichterte ein ehemaliger Haftgenosse von Slater in einem Zeitungsinterview sein Gewissen. Zwei Männer aus seiner Bande hätten von dem Dienstmädchen über die Juwelen in Gilchrists Wohnung erfahren, die Wohnung ausgekundschaftet und wären schließlich eingebrochen und hätten die Frau erschlagen.
Es tauchte auch ein anonymer Brief auf, in dem der Schreiber behauptete, dass das Dienstmädchen mit einem Neffen des Opfers, einem wilden Kerl namens Birrell, verlobt und Komplizin des Mordes gewesen sei. Der Neffe solle nicht auf der Suche nach Schmuck und Geld gewesen sein, sondern nach einem Testament, dass ihn vom Erbe ausschloss. Oder war doch der andere Neffe, Dr. Francis James Charteris, der Mörder? Der Fall wurde nie geklärt.
Quellen:
Michael Klein (Hrsg.), Der Fall Oscar Slater von Arthur Conan Doyle, erschienen im Morio Verlag, 2016